Autor*in | Vivien Goldman | |
Titel | Die Rache der She-Punks. Eine feministische Musikgeschichte von Poly Styrene bis Pussy Riot | |
Verlag | Ventil | |
Erscheinungsjahr | 2021 | |
Bewertung |
Wenn ich an Punk und Feminismus denke, fällt mir zuerst der Song ♀ ein. Die Ärzte haben ihn 1988 auf ihrem legendären Livealbum Nach uns die Sintflut verewigt. Wie so oft bei dieser Band, wird dabei eine weitsichtige Erkenntnis eines gesellschaftlichen Problems (Sexismus, toxische Männlichkeit) mit viel Klamauk und schlechtem Geschmack vermengt. Die Ärzte bringen ihre weiblichen und männlichen Fans dazu, immer abwechselnd die Zeilen des Refrains zu singen. Ein paar Tausend Mädchen rufen deshalb voller Inbrunst „Schwanz ab, Schwanz ab“, und die Jungs im Publikum antworten mit etwas weniger Überzeugung „Runter mit dem Männlichkeitswahn“. Das geht mehr als zehn Minuten lang und ist ein großes Vergnügen.
Um körperliche Entmannung geht es jedoch nicht in Die Rache der She-Punks. Vielmehr hat Vivien Goldmann, 1954 in London geboren, einst selbst Punkmusikerin und mittlerweile Professorin an der New York University, hier eine feministische Musikgeschichte von Poly Styrene bis Pussy Riot verfasst, wie der Untertitel verrät. „Im Falle punkiger Frauen bedeutet Rache, denselben Zugang zu erhalten wie deine männlichen Kollegen, deine eigene Musik zu machen, auszusehen und zu klingen wie du magst, sowie genug Leute zu erreichen, um das Fortführen dieses Prozesses sicherzustellen“, stellt sie im Buch klar.
In vier Kapiteln behandelt sie die Themenfelder Identität, Geld, Liebe und Protest, vorangestellt ist jeweils eine Playlist mit thematisch verwandten Songs, die von Musikerinnen wie Blondie, Bikini Kill, Patti Smith, Malaria!, Shonen Knife, Pussy Riot, Chrissie Hynde, Grace Jones, Neneh Cherry oder Sleater-Kinney stammen, oft auch von deutlich weniger prominenten Acts. Die Auswahl zeigt schon: Punk wird von Vivien Goldman nicht nur als musikalischer Genrebegriff verstanden, sondern als Mindset. So nennt sie als She-Punks zusätzlich, ohne dass auf deren Werk im Buch näher eingegangen würde, beispielsweise auch Björk, Kesha, Beth Ditto, Santigold oder Pink.
Ein großer Vorteil ist dabei die betont globale Perspektive. Das Buch nimmt beispielsweise Musikerinnen aus Japan, Jamaika, Indonesien, Spanien, Tschechien, Kolumbien und Indien unter die Lupe und wird dadurch noch interessanter und substanzieller. Gerade dieser Blickwinkel verdeutlicht auch, dass Punk und Emanzipation nicht einfach parallele Entwicklungen waren, die zufälligerweise zur selben Zeit stattfanden. Vielmehr kann die revolutionäre Kraft dieser Musik („Autoritäre Regime verstehen, dass der dem Punk zugrunde liegende rohe Primitivismus ihre Herrschaft bedroht. Er verkörpert eine Form der Ermächtigung, indem er es Menschen, die keine Mittel haben, den herrschenden Machtstrukturen zu widersprechen, ermöglicht, ein musikalisches Statement abzugeben“, beschreibt die Autorin diese Wirkung) – im UK und den USA 20 Jahre nach Elvis, in vielen nicht-westlichen Gesellschaften erst/bis heute – elementar sein, um Türen zu öffnen, die bis dahin für Frauen verschlossen waren. Punk hat von der Emanzipation profitiert, sie in vielen Fällen aber auch erst möglich gemacht. „Punk hat tatsächlich einen kulturellen Raum aufgesprengt, in dem Frauen eine musikalische Gemeinschaft bilden konnten, buchstäblich auf eine bisher ungehörte Weise“, beschreibt Goldman dieses Zusammenwirken.
Ein zweiter großer Pluspunkt für Die Rache der She-Punks ist die Insider-Perspektive der Autorin. Ohne mit ihrer Street-Cred zu prahlen, macht sie deutlich, dass sie damals in den wilden Tagen in London mittendrin war, mit den ganz Großen dieser Ära die Bühne, das Tonstudio oder das Sofa in einem besetzten Haus geteilt hat. Die Rolle als Zeitzeugin hat dabei bei den für dieses Buch geführten Interviews sicher ebenso viele Türen geöffnet wie ihre folgende Karriere als Musikjournalistin, Dokumentarfilmerin, Buchautorin (unter anderem mit Werken über Bob Marley, Kid Creole und Afrobeat) und als „Punk-Professorin“.
Selbst, wenn es keine persönlichen Verbindungen zu den Protagonistinnen gibt, bleibt immer ihre große Leidenschaft für die Musik spürbar. Das ist im Stil zunächst gewöhnungsbedürftig, weil sprunghaft und gelegentlich auch eitel. Die meisten Passagen lesen sich wie ein Essay oder eine auf Interviews und Lektüre basierende Analyse, manchmal sind die Beschreibungen der als prototypisch herausgehobenen Songs nahe an Rezensionen, in jedem Fall ist das alles sehr individuell und eigenständig (also Punk). Beispielsweise schildert sie Jazz an einer Stelle als Genre „mit der Direktheit und Schnittkante des Pfeils einer Amazonenkriegerin“; der Sound der aus dieser Szene kommenden Musikerin Jayne Cortez war demnach „schärfer als ein Blutdiamant, vorgetragen über Rhythmen, die rumpelten und sich drehten wie große Motoren der Veränderung“. Übersetzer Vojin Saša Vukadinovic hat Flow und Fantasie dieser Sprache dabei sehr sensibel in die deutsche Ausgabe übertragen.
Mit dieser Methode arbeitet Goldman immer wieder spannende Gedanken und Erkenntnisse heraus, etwa die Ursachenforschung, warum es im Punk (fast) keine Liebeslieder gibt, oder den Hinweis, dass sich im Online-Zeitalter mit seinem vergleichsweise niedrigschwelligen Zutritt zum Musikgeschäft viele neue Möglichkeiten für die Unabhängigkeit von Musikerinnen ergeben, wodurch auch einige Heldinnen von einst wieder aktiv geworden sind. Sehr erhellend sind auch die Daten und Quellen, auf die Vivien Goldman für Die Rache der She-Punks zurückgreift. Angesichts von Beyoncé, Madonna oder meinetwegen auch Helene Fischer mag eine Aussage wie diese zwar zunächst erstaunen: „Frauen haben immer noch kein maßgebliches Mitspracherecht in der multinationalen Musikindustrie, der wir so viel Umsatz bescheren. Im Showbusiness werden wir oft für austauschbares Frischfleisch gehalten, das am besten in jungen Jahren verzehrt wird.“ Doch als Beleg kann sie eine Studie der University of Southern California aus 2017 heranführen. Ergebnis: Von den 600 beliebtesten Songs der vergangenen fünf Jahre wurde nur ein Viertel von Frauen gesungen, nur ein Achtel von Frauen komponiert und sogar nur ein Zwanzigstel von Frauen produziert.
Der Kern des Buchs ist das Aufzeigen der Möglichkeiten, die Punk bietet, um solche Strukturen aufzubrechen. Das oben genannte Zitat zur Musikindustrie geht bezeichnenderweise so weiter: „Deshalb ist Punk so großartig für Girls: Er erlaubt den Künstlerinnen – oder fordert sogar von ihnen ein -, dass sie die Wut, die stets unter der Haut dieses Stils pumpt, herausschreien.“ Wo dieser Sound und diese Attitüde für Männer oft eine Möglichkeit war, Macht und Kontrolle (des Establishments) zu zerschlagen, wird Punk hier für Musikerinnen auch zum Vehikel, um Macht und Kontrolle (vom Patriarchat) zu erlangen – aus der destruktiven Rebellion wird eine konstruktive.
Sehr eindrücklich zeigt Die Rache der She-Punks, wie wichtig Role Models und weibliche Solidarität (Goldman nennt das „Unterstützerinnensysteme“) dabei sind. Zugleich führt ihr historischer Ansatz vor Augen, dass es in diesem Kampf, der natürlich nicht nur in der Musik ausgefochten wird, sondern auch im Bett und am Küchentisch, an der Arbeit und mit der Familie, an der Wahlurne und auf der Straße, immer wieder Rückschläge gab und gibt, immer wieder neues Terrain und neue Akzeptanz erkämpft werden muss, oft ohne irgendwelche Starthilfen oder Orientierungspunkte, auf die männliche Kollegen vermeintlich selbstverständlich zurückgreifen können. Wenn dieses Empowernment gelingt, ist es umso beglückender, wie man beispielsweise der Aussage von Alicia Armendariz alias Alice Bag entnehmen kann, die 1977 The Bags gründete und 2016 ihr erstes Soloalbum veröffentlichte: „Rebellion, Kreativität, Rohheit – das waren die Grundlagen von Punk. Punk hat mich begreifen lassen, dass die einzigen Grenzen die sind, die man sich selbst auferlegt.“
Einziges kleines Manko an Die Rache der She-Punks – Eine feministische Musikgeschichte von Poly Styrene bis Pussy Riot: Es gibt leider keine Bilder, obwohl Vivien Goldman immer wieder darauf eingegeht, wie sehr die vorgestellten Musikerinnen auch ihre Optik nutzten, um sich aufzulehnen, abzugrenzen und ihre Autonomie zu inszenieren. Das Coverfoto des Buchs, das Chrissie Hynde (The Pretenders), Debbie Harry (Blondie), Viv Albertine (The Slits), Siouxsie Sioux (Siouxsie And The Banshees), Poly Styrene (X-Ray Spex) und Pauline Black (The Selecter) im Jahr 1980 in London zeigt, wäre dafür eigentlich der ideale Ausgangspunkt gewesen.
Das beste Zitat entstammt einem Gespräch mit Gina Birch, Bassistin der Raincoats: „Punk war aufregend und er war machbar. Er ermöglichte es, eine neue Empfindung freizulassen, die in meinem Herzen und meinem Gehirn entfesselt wurde. Ich dachte: Das ist der Anfang von dem, was ich bin.“