We Are Scientists Lobes

We Are Scientists – „Lobes“

Künstler*in We Are Scientists

We Are Scientists Lobes Review Kritik
Lappen gibt es auch im Gehirn, wissen We Are Scientists.
Album Lobes
Label Grönland
Erscheinungsjahr 2023
Bewertung

Die Wissenschaft hatte zuletzt keinen leichten Stand. Das angeblich postfaktische Zeitalter, das Unverständnis für die zwangsläufige Vorläufigkeit (und Fehleranfälligkeit) aller Forschungserkenntnisse, Kampagnen von Pseudo-Expert*innen beispielsweise zur Leugnung des menschengemachten Klimawandels oder False-Balance-Phänomene in den Medien während der Corona-Pandemie haben dazu beigetragen. Die Menschen verstehen oft die Motivation von Wissenschaftler*innen nicht, auch nicht die Methoden und Rahmenbedingungen der Forschung. Sie wollen klare, nützliche Resultate – am besten in einfachen Worten zusammengefasst und zum eigenen Weltbild passend.

We Are Scientists scheinen von diesem betrüblichen Trend nicht betroffen. Das Duo aus New York, bestehend aus Chris Cain und Keith Murray, veröffentlicht heute mit Lobes ein neues Album. Schauen wir uns also an, wie sie den modernen Anforderungen an Wissenschaft gerecht werden.

Die Produktivität: Lobes ist das achte Studioalbum der 1999 gegründeten Band. Das wirkt nicht sonderlich beeindruckend, aber seit dem Debütalbum im Jahr 2006 haben We Are Scientists in einem ziemlich stetigen 2-Jahres-Rhythmus neue Platten veröffentlicht. Dazu kommen fünf EPs, zwei Live-Platten, zwei Akustik-Alben und Compilations mit B-Seiten und unveröffentlichtem Material. Das kann sich also sehen lassen. Zumal der Output sich zuletzt beschleunigt hat: Erst im Oktober 2021 hatten sie mit Huffy das letzte Album veröffentlicht.

Die Methodik: Die Fachdisziplin dieser Band heißt bekanntlich „Indierock“, und wie sie darin arbeitet, macht beispielsweise Settled Accounts sehr transparent: Keith Murray singt mit tiefer Stimme in der Strophe, mit hoher im dadurch strahlender wirkenden Refrain, es wird ein Tamburin für etwas zusätzlichen Schwung und ein Sequenzer für zusätzliche Größe eingesetzt. Das sind einfache Tricks, die aber sehr wirkungsvoll sind. Auch im sehr erwachsen wirkenden Lucky Just To Be Here, das sich von reduziert zu leidenschaftlich entwickelt, kann jedermann sehr gut erkennen, wie diese beiden Klangforscher arbeiten.

Die Fachbegriffe: Auf vorbildliche Weise bemühen sich We Are Scientist, ihr Vokabular zu erklären. Keith Murray übernimmt das beispielsweise für den ungewöhnlichen Albumtitel. „Lobes ist der Name eines Müslis aus schwarzen Kugeln, das Chris Cain erfunden hat (fragen Sie nicht!). Natürlich hat das neue Album wenig mit Frühstück zu tun, aber ich mochte die Assoziationen, die das Wort mit der Hirnbiologie hat, und die Beschwörung von Science-Fiction und das Gefühl von etwas, das sowohl grundlegend menschlich als auch völlig unerkennbar ist“, erläutert er. „Das Wort ‚Lobes‘ lässt mich an die Körperhorrorfilme von David Cronenberg denken, aber auch an die gesprächigen Sittenkomödien von Whit Stillman. Ich liebe die Reaktion, die es bei den Leuten hervorruft: Alle kennen das Wort [‚Lobes‘ heißt übersetzt ‚Lappen‘], aber aus irgendeinem Grund erschreckt es sie immer wieder, wenn man sie auffordert, es zu definieren, oder es macht sie wütend, oder es bringt sie zum Lachen, oder sie sagen mir, ich solle die Klappe halten. Es ist auch ziemlich lustig, es auszusprechen: Lobes!“

Die Evidenz: We Are Scientists lassen an der Korrektheit ihrer Ergebnisse keinerlei Zweifel aufkommen und liefern genau das, was sie versprechen. Wenn ein Song Miracle Of 22 heißt, dann klingt er in der Tat magisch, vielleicht dank ein paar Gedanken an MGMT, allerdings mit etwas weniger Glamour. Turn It Up erfüllt ebenfalls die Erwartungshaltung, die man hinter diesem Titel vermutet, und wirkt auf reizvolle Weise, als hätten sich die Kaiser Chiefs in eine tropische House-Disco verlaufen. Und Dispense With Sentiment ist natürlich ein wunderbar rationales Credo für die Wissenschaft, dahinter steckt bei ihnen der Wunsch nach Neubeginn und reinem Tisch in einer Beziehung, umgesetzt mit einem sehr verspielten Groove.

Die Innovationsstärke: Ein paar Mal kann man auf Lobes erkennen, wie intensiv sich Murray und Cain mit dem Handbuch beschäftigt haben, auf dem „Intelligente Gitarrenmusik, zu der man tanzen kann“ steht. So setzt Less From You auf einen lupenreinen Discobeat und sogar ein bisschen Kuhglocke, sodass man sich fragen kann, was eigentlich aus The Bravery geworden ist. Ein Lied wie Here Goes, das mit einem recht strengen Beat und einem freigeistigen Gitarrensolo etwas sperriger wird, zeigt aber gut, wie sie diesem Forschungsstand immer wieder eigene Elemente hinzufügen. Auch auf Lobes gelingt das insbesondere immer wieder durch den wunderbar kreativen Bass von Chris Cain, etwa in Human Resources, das mit dem hymnischen Refrain und den Eighties-Referenzen auch zu Alex Cameron oder gar zu den Killers passen könnte. In Parachute fügen sie einem luftigen Beat etwas Theatralik im Stile von The Blood Arm hinzu, und die schöne Textzeile: „Just because I’m scared, too / doesn’t mean I’m scared of you.“

Die Nützlichkeit: We Are Scientists werden mit Lobes nicht die Fachwelt in Aufruhr versetzen, aber sie zeigen hier erneut, wie kompetent sie sind und liefern wiederum ein Album ab, auf dem es keinen einzigen schlechten Song gibt. Wie willkommen diese neue Publikation ist, zeigt vielleicht am besten die Single Operator Error. Sie ist positiv, tanzbar und einfallsreich – und wer wollte bezweifeln, dass die Welt so etwas braucht?

„Lappen“ ist im US-Straßenverkehr offensichtlich keine Beleidigung.

Website von We Are Scientists.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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