Weihnachtsfutter für die Ohren mit Finneas, Donots, Lilly Among Clouds, Dream Nails und Girl In Red

Finneas Another Year Review Kritik
Finneas setzt auf Weihnachten ohne Klischees. Gut so. Foto: Verstaerker.com

So zahlreich die Dinge sind, die an Weihnachten 2020 anders sein werden als in den Vorjahren, so bleibt eine Herausforderung doch ewig gleich: die Suche nach neuen, im besten Fall guten Weihnachtsliedern. Das liegt natürlich daran, dass die üblichen Verdächtigen (Einkaufszentren, Radiosender, Weihnachtsmärkte) in der Adventszeit und an den Feiertagen nicht gerade experimentierfreudig sind und dann doch wieder auf das unvermeidliche Last Christmas setzen oder All I Want For Christmas Is You so oft spielen, dass es (auch durch neue Zählweise in den Charts) im vergangenen Jahr erstmals Nummer-1-Status in den USA erreichen konnte und das dieses Jahr auch im UK schaffte, 26 Jahre nach seiner ursprünglichen Veröffentlichung. Zugleich scheuen viele aktuelle Acts dieses Genre: Ein erfolgreiches aktuelles Weihnachtslied zu machen, kann zwar ungeheuer lukrativ sein, wie nicht nur der Protagonist in About A Boy weiß, weil dann jedes Jahr pünktlich zum Jahresende die Tantiemen sprudeln. Der Versuch eines eigenen Weihnachtslieds kann aber auch schnell peinlich werden. Wer rund um Heiligabend einfach nur Kasse machen will, greift deshalb in der Regel eher zu einem Album mit Coverversionen statt zu einer Eigenkomposition. Zum Glück wagen sich Jahr für Jahr doch ein paar Acts an dieses Experiment. Shitesite hat ein paar davon gefunden und stellt die besten aktuellen Weihnachtslieder vor.

Den Auftakt macht Finneas mit Another Year (****). „Ich habe den Song im vergangenen Jahr zu Weihnachten geschrieben“, sagt das Pop-Wunderkind. „Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass ein Jahr voller Unsicherheiten vor uns liegt. Aber selbst wenn ich gewusst hätte, was 2020 alles passiert, hätte ich wohl nicht ein einziges Wort geändert. Ich hoffe, dieses Lied bringt ein bisschen Zufriedenheit, wo immer es dich erreicht. Ich glaube daran, dass es Licht am Horizont gibt“, so der 23-Jährige, der es bereits auf sechs Grammys bringt, unter anderem für die Zusammenarbeit mit seiner Schwester Bille Eilish. Auch für die eigene Debüt-EP Blood Harmony wurde er mächtig gefeiert und kann mehr als 575 Millionen kombinierte Streams in seinem bisherigen Katalog vorweisen. Das neue Stück setzt fast nur auf Gesang und Klavier, vor allem aber auf einen tollen Text, der Schnee, die Geburt von Jesus und Kaminfeuer erwähnt, aber kein bisschen nach Klischee klingt.

Punkrock assoziiert man üblicherweise nicht gerade mit Besinnlichkeit, aber Dream Nails halten so wenig von dieser Konvention wie von allen anderen Konventionen. Das feministische Quartett aus England, das im Oktober sein erstes Album veröffentlicht hat, präsentiert mit Lonely Star (****) ein eigenes Weihnachtslied, das erstaunlich heiter und romantisch geworden ist und im Video die unerträgliche britische Tradition des möglichst hässlichen Christmas-Sweaters zelebriert. Mit Zeilen wie „Christmas – a heteronormative bore / Oppression – is that what family is for?“ werden Charakter und Agenda von Dream Nails bei genauerem Hinhören natürlich trotzem erkennbar. „Dieses Weihnachten wird anders, das steht fest. Deshalb wollten wir ein Weihnachtslied schreiben, das vor allem unserer LGBT-Community Stärke und Liebe sendet. Für viele von uns ist Weihnachten sowieso eine harte Zeit. Wir sehen euch, wir sind da für euch und wir lieben euch!“, lautet die Botschaft von Gitarristin Anya Pearson. Bassistin Mimi Jasson, die bei Lonely Star ausnahmsweise auch Klavier spielt, ergänzt: „Da unsere Regierung es nicht schafft, adäquat auf die Pandemie zu reagieren, sammeln wir mit dem Song Spenden für The Outside Project, das erste LGBTIQ+ Krisen- und Obdachlosen Zufluchts- und Gemeinschaftszentrum. Sämtliche Spenden über Bandcamp leiten wir weiter.“ Vorbildlich: Weihnachten ist ja auch die Zeit der Wohltätigkeit.

https://www.youtube.com/watch?v=foNhyiLLmGg

Auch die Donots wissen natürlich, dass die stille Nacht auch laut sein darf. Die Band aus Münster und Ibbenbüren haut als Weihnachtssingle eine Coverversion von Merry Christmas (I Don’t Wanna Fight Tonight) raus, das Original stammt von den Ramones aus dem Jahr 1987. „Spontane Ideen sind doch immer irgendwie die besten. Neulich im Proberaum ist uns aufgefallen, dass Merry Christmas (I Don’t Want To Fight Tonight) von den legendären Ramones wohl eines der einzigen Weihnachtslieder ist, die man auf Lautstärke 100 anschmeißen darf, ohne dabei rot zu werden. Vielleicht war’s danach ein Glühwein zu viel, aber im nächsten Moment hatten wir schon die Instrumente in der Hand und einen Heidenspaß daran, genau diesen tollen Song zusammen zu spielen“, erklärt die Band zur Entstehung. Als Unterstützung konnten sie tatsächlich CJ Ramone gewinnen (der allerdings erst zwei Jahre nach Erscheinen von Merry Christmas zum Bandmitglied wurde), ebenso wie Cecilia Boström (The Baboon Show). Ihre gemeinsame Version (***) fügt der Vorlage nichts Entscheidendes hinzu, fängt aber gut die Atmosphäre der spontanen Begeisterung ein. „Wir sind wahnsinnig happy, dass eine weitere Donots-Schnapsidee den direkten Weg an die Theke getorkelt ist… und dass wir einen Ramones-Song mit einem Ramone und einer Baboon zusammen aufnehmen durften“, freut sich die Band. Das klingt ganz so, als hätten sie sich ihr schönstes Weihnachtsgeschenk schon selbst gemacht.

Als „Weihnachtssong des Jahres“, der „noch das kälteste Herz zum Schmelzen bringt“ wird Two Queens In A King Sized Bed (***1/2) von Girl In Red vermarktet. Marie Ulven, die norwegische Künstlerin hinter diesem Namen, erzählt zum Kontext: „Ich erinnere mich darin an ein Weihnachtsfest, das ich mit einer geliebten Person verbracht habe. Wir lagen im Bett, wie aneinandergeklebt, aber trotzdem wollte wir uns am liebsten noch näher sein und wünschten uns, jede Sekunde würde ewig währen.“ Die Szene wird im sehr stimmungsvollen Video von Regisseur Niels Windfeldt nachgestellt, bloß der im Text erwähnte Mistelzweig fehlt. Die Idee, dass man einen so intimen Moment zu einer eigenen Welt machen kann (und dass so ein Moment in einer Zeit wie Weihnachten noch enorm aufgeladen werden kann), ist in der Tat wunderbar romantisch, besinnlich und tröstlich. Mit hunderten Millionen Streams, die es in den vergangenen Monaten für die Musik von Girl In Red gab, und einem Platz auf der „BBC Sound of 2021“-Longlist dürfte ihr vor dem neuen Jahr aber ohnehin nicht allzu bange sein.

So klingt Weihnachten heißt eine Zusammenstellung, die in diesem Jahr für Deezer entsteht. Eine der beteiligten Künstlerinnen ist Lilly Among Clouds. Sie hat The Greatest Gift (****) von Sufjan Stevens aus seinem gleichnamigen 2017er Album für dieses Format neu interpretiert. „Das tollste Geschenk zu Weihnachten, sagt man ja gerne, sind Familie und Freunde, denen man Gesundheit und noch viel Zeit miteinander wünscht. Dies in einen Weihnachtssong zu packen, fand ich toll von Sufjan Stevens, und ist inhaltlich genau die Art von Weihnachtssong, die ich auch mal schreiben möchte, die ich textlich toll finde“, begründet die Künstlerin, die in der Nähe von Würzburg lebt, diese Wahl. „In diesem außergewöhnlichen Jahr, wo man auf den Familien- und Freundebesuch sehr oft verzichtet hat und vielleicht sogar noch an Weihnachten verzichten wird, ist es umso schöner, ein Lied darüber zu singen, wie wichtig sie einem sind.“ Die Freude, die so ein Wiedersehen bringen kann, hört man dem Song tatsächlich an, ebenso wie die Turbulenzen, die in so einer Zusammenkunft oder den vielen gemeinsamen Erinnerungen stecken können. Sehr löblich: Bei den Aufnahmen im Studio gab es Plätzchen und Glühwein für die Gastmusiker*innen Clara Jochum, Kilian Brand und Piet Charlet.

Michael Kraft

Michael Kraft ist Diplom-Journalist und lebt in Leipzig. Auf shitesite.de schreibt er seit 1999 als Hobby über Musik, Filme, Bücher und ein paar andere Dinge, die ihn (und vielleicht auch den Rest der Welt) interessieren.

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