Die schönsten Weihnachtslieder sind ja oft die, bei denen man den Bezug zu den Festtagen kaum merkt. Day After Tomorrow von Tom Waits aus dem Jahr 2004 ist so ein Song, und dieser Charakter bleibt auch erhalten in der Coverversion, die Phoebe Bridgers jetzt aufgenommen hat. Ihre Fassung (***1/2) ist deutlich zarter als das Original, beinahe ätherisch. Auch die Streicher tragen viel zur Besinnlichkeit (und zum dezenten Hinweis auf eine Glaubenskrise) bei. Bridgers hat diese Vorliebe für eigene Interpretationen von Weihnachtsklassikern ja bereits in früheren Jahren mit Have Yourself A Merry Little Christmas oder If We Make It Through December bewiesen, ebenso gemeinsam mit Fiona Apple und Matt Berninger (The National) bei einer gemeinsamen Neuaufnahme von Simon & Garfunkels ‘7 O’Clock News / Silent Night und dem Cover von McCarthy Trenchings Christmas Song gemeinsam mit Jackson Browne. Auch für Day After Tomorrow hat sie übrigens einige prominente Unterstützung an Bord, im Chor singt unter anderem Marcus Mumford mit. Die Erlöse gehen komplett an das International Institute Of Los Angeles, das Einwanderer*innen unterstützt. So gehört sich das zum Fest der Liebe.
Auch bei Daði Freyr könnte man fast überhören, dass es um Weihnachten geht. Er singt in Something Magical (***1/2) zwar vom Zauber des Advents. Ansonsten ist der Song des Isländers aber so heiterer und fast sommerlicher Elektropop, dass man das Lied gut und gerne auch nett finden darf, wenn man von Kommerz, Verlogenheit oder auch bloß all den Routinen rund um den Heiligabend genervt ist. Das war übrigens auch für Daði Freyr ein Grund, diesen Song zu schreiben, wie im Text auch anklingt: Viele der allseits bekannten Weihnachtslieder mag er nach eigenem Bekunden nicht, und bevor er die trotzdem immer wieder hören muss, hat er lieber einen eigenen gemacht.
Apropos heimliche Weihnachtshasser: Frohe Weihnachten an alle, die das alles noch ertragen heißt die neue EP von Kurt Prödel. Offensichtlich hat er also neben Tätigkeiten für Studio Schmitt auf ZDFneo, im Podcast „Man lernt nie aus” auf Spotify, als Hörbuchautor, Videoregisseur (unter anderem für Haiyti, Money Boy und Juicy Gay) und nicht zuletzt als Schlagzeuger bei The Screenshots noch Zeit, sich nun auch als Solomusiker zu betätigen (im August gab es sein Debüt mit Wie kann man mit sich selbst so zufrieden sein) und dabei über christliche Feste und andere Märchengeschichten zu philosophieren. Der Titelsong (***1/2) stellt die sehr berechtigte Frage, wie man angesichts von Pandemie, Klimakatastrophe und Krieg überhaupt zu so etwas wie Besinnlichkeit kommen soll – wenn nicht einmal mehr die Weihnachtsansprache mit der beruhigenden Stimme und notorischen Inhaltslosigkeit von Angela Merkel zu erleben sein wird. Neben den Streichern und Pfeifen sorgen Klavier und zweite Stimme von Laura Totenhagen für vorgetäuschte Glückseligkeit, die sich schön mit dem halbwegs schiefen Gesang von Kurt Prödel reibt. Die drei Songs der EP erscheinen ausschließlich digital. Wer Fans von Kurt Prödel eine Freude machen will, sollte also am besten einen USB-Stick auf den Gabentisch legen oder den Tannenbaum mit QR-Codes schmücken.
Nicht nur als skeptisch und ironisch, sondern beinahe schon als ein vierköpfiger Grinch erscheinen The Lathums auf ihrem neuen Track Krampus (****). Denn es ist ein (Anti-)Weihnachtssong. „Es war ungefähr in der Mitte des ersten Lockdowns, als Johnny bei den Proben die Bassline spielte und ich dachte, dass es sich wie ein Weihnachtslied anhört“, erzählt Frontmann Alex Moore. „Scott und ich hatten uns bei ihm zuhause das Weihnachtsspecial von Inside No.9 angesehen, wo ich von dem schrecklichen Krampus erfahren habe. Wenn wir einen Weihnachtssong machen würden, wollte ich diese dunkle Seite mit einbeziehen.“ So sind dann wohl auch düstere Prophezeiungen wie „Santa ain’t coming this year“, „Your Christmas will be cancelled anyway“ oder „The end of the world is coming“ zu verstehen, die man angesichts der normalerweise bei dieser Band vorherrschenden Zuversicht (und einem #1-Debütalbum im Gepäck) wohl als ironisch verstehen darf. Auch der Sound ist viel zu heiter für solche fiesen Vorhersagen, die Housemartins klingen da ebenso an wie Rockabilly. „Ich bin kein großer Weihnachtsfan, aber irgendwann setze ich mir den Papphut auf und mache mit, ich kann gar nicht anders. Nach dem Jahr, das wir hinter uns haben, haben wir so viel Grund zum Feiern, dass diese Single ein letztes Dankeschön an alle ist, die uns in diesem Jahr unterstützt haben“, sagt Alex Moore. Im Januar/Februar sind The Lathums mit Blossoms auf Deutschlandtour (falls Konzerte erlaubt sind) mit Shows in Hamburg, Berlin und Köln.
Ein bisschen Schummeln ist zu Weihnachten natürlich erlaubt, man denke nur an die Geschichte mit dem Christkind oder dem Mann mit dem weißen Bart auf dem von Rentieren gezogenen Schlitten, der Geschenke bringt. Insofern dürfen wir hier auch Lousy Lullaby (****) berücksichtigen, die neue Single des wunderbaren Gregor McEwan. Der Song ist zwar kein Weihnachtslied, aber ein Winterlied – und somit die erste Kostprobe aus dem Abschluss der Reihe von EPs, mit denen der Künstler sich dem Wandel der Jahreszeiten gewidmet hat. Das Stück „handelt von all den technischen und gesellschaftlichen Einflüssen, die dazu führen, dass man sich einfach nur noch ins Bett legen und schlafen möchte“, sagt Gregor McEwan. Entsprechend ruhig geht es im Song zu, mit einem Klavier im Zentrum, einer klasse Melodie und einem Streicher- und Bläserarrangement, das fast so herzzerrießend ist wie der Blick des Teddybären (er heißt „Wilson“ und spielt die Rolle des leblosen, aber treuen Kompagnons wie der gleichnamige Volleyball von Tom Hanks in Cast Away) im sehr sehenswerten Video.
Gleich ein ganzes Weihnachtsalbum haben die Broilers gemacht. Es heißt Santa Claus und ist bereits am 12. November erschienen, gleichzeitig mit der Single Grauer Schnee (***). Das Lied ist die einzige Eigenkompositionen auf dem Album, das ansonsten Klassiker wie Feliz Navidad, Driving Home For Christmas oder Fairytale Of New York vereint, ebenso wie Punk-Favoriten wie Oi! To The World von den Vandals. Auch Merry Christmas (I Don‘t Want To Fight Tonight) von den Ramones haben die Broilers für diese Platte gecovert, und das darf man im Sound als klares Vorbild für Grauer Schnee betrachten, mit wuchtigen Drums, viel Sehnsucht nach Harmonie im Text und natürlich ein paar Glöckchen. „Egal wie viel Alltag auf uns einprasselt, egal wie viel ‚Grinch‘ kurz vor dem Fest in uns steckt, es gibt da Musik in unserem Plattenschrank, die uns jedes Jahr um Weihnachten herum ein wohliges Grinsen ins Gesicht zaubert und in eine gute Stimmung katapultiert. Wir treten hier in die großen und verschneiten Fußstapfen von Heldinnen und Helden von uns und versuchen ihren Songs alle Ehre zu machen“, sagt die Düsseldorfer Band zur Idee einer Weihnachtsplatte. Ab Juni soll eine Open-Air-Tour mit dem schönen Motto „Alles wird wieder Okay“ starten.