Der graue Stoff schimmert im abgedimmten Licht. Er gleitet ein Stückchen tiefer, knisternd. Kurz ist ein Blick auf die Schulter zu erhaschen, wohlgeformt und markant. Die leise Musik im Hintergrund soll entspannen, doch in diesem Moment der äußersten Erregung muss sie damit scheitern. Der Stoff gleitet noch ein Stückchen tiefer, sanft und ganz langsam. Darunter ist fast nichts zu erkennen, aber viel zu erahnen: himmlische Rundungen, perfekte Proportionen.
Noch ein Stückchen tiefer. Gleich ist der Scheitelpunkt dieser herrlichen Kurve erreicht, dann wird die Seide den Halt verlieren, unaufhaltsam ins Bodenlose stürzen und endlich, endlich den Blick freigeben auf das, was sich die Fantasie schon in den schönsten Farben, mit den Linien eines Modigliani, bis ins kleinste Detail ausgemalt hat.
Und dann steht sie da, hüllenlos, in voller Pracht: eine smaragdgrüne Raubkatze. Der neue Jaguar XK Coupé. Während die Musik lauter wird, die Besucher der IAA in Frankfurt klatschen und der Wagen bei seiner Weltpremiere sogleich ein Blitzlichtgewitter über sich ergehen lassen muss, verschwindet Pierre Griesel mit einigen Quadratmetern grauer Seide hinter den Kulissen. Er musste gemeinsam mit einer Hostess den Wagen von seiner edlen Zeltgarage befreien. Mit der nötigen Theatralik, streng synchron und auf die Sekunde genau.
„Proben durften wir die Enthüllung nicht, sonst wäre das Auto dabei ja zu sehen gewesen“, erzählt Pierre Griesel, der im Hauptberuf Schauspieler ist und beispielsweise als Pierce-Brosnan-Double sein Geld verdient. Immerhin hat er mit seiner Kollegin aber kurz den richtigen Weg zum Auto und die beste Standposition trainieren können. „Das Wichtigste ist, dass man nicht ausrutscht. Wir haben extra noch die Schuhsohlen aufgeraut“, sagt der 35-jährige Wiesbadener.
Als der Wagen enthüllt ist, verschwindet das graue Tuch hinter der Bühne und liegt dort unbeachtet herum. Eine sterbliche Hülle ist der Fetzen, den eine britische Spezialfirma hergestellt hat, aber nicht: Der Stoff wird gewaschen und für weitere Präsentationen wieder verwendet. Dann wird die Hülle wieder die Blicke auf sich ziehen. Sie liegt zwischen dem Geheimnis und der Offenbarung, sie ist die dünne Schicht zwischen brennender Gier und Erlösung der Besucher.
Auch für die Autohersteller ist die Enthüllung der große Augenblick – letztlich sogar der Moment, um den sich die ganze Messe dreht. „Wir freuen uns darauf. Es macht stolz, wenn das Auto, an dem man so lange gearbeitet hat, endlich für alle sichtbar ist und Applaus bekommt“, erzählt Holger Wittenberg, der den Stand des koreanischen Herstellers Kia in Halle 4 leitet. „Das ist sehr genau vorbereitet. Das Design des Standes, die Position der Autos, die Prominenten, die man zur Präsentation einlädt – das alles muss genau zum Auto passen“, sagt Wittenberg.
Dementsprechend vielfältig wird der große Moment zelebriert. Bei Hyundai sind die neuen Modelle unter überdimensionalen Fußbällen versteckt. Ein zotteliger Riesenlöwe – das Maskottchen der WM 2006, die von der Autofirma gesponsert wird – startet einen Countdown, dann erblickt die neue Generation des Getz das Licht der Welt. Dazu ist der Beatles-Song „Drive My Car“ zu hören. Volkswagen lässt Pauken und Trompeten erklingen, um den angemessenen Rahmen für das Cabrio Eos zu schaffen. Bei Audi gibt es Nebelschwaden, bei Mercedes begleiten artistische Einlagen die Präsentation.
Dass die Enthüllung reine Inszenierung ist (wenn auch eine sehr gekonnte), wird bei Fiat deutlich: Konzern-Boss Luca di Montezemolo zieht eigenhändig die weiße Plane von der Rallye-Version des neuen Fiat Punto Grande. Allerdings war das Auto tags zuvor schon zu sehen – völlig hüllenlos.
An einigen anderen Ständen finden sich am ersten Messetag mitunter nur vermummte Karossen. Geheimnisvolle Landschaften aus roten Felsen, Galerien mit blauen Skulpturen, Felder mit weißen Hügeln, die wie bizarre Schneeverwehungen aussehen. Wenn man nicht unbedingt gekommen ist, um die Autos darunter zu sehen, ist das durchaus ein reizvolles Bild. Der Verpackungskünstler Christo hätte an den verschiedenen Variationen seine helle Freude. Die Verhüllung von Gegenständen bringe deren eigentlichen Wert wieder ins Bewusstsein, hat er einmal gesagt. Die Verpackung zeige die Grobstrukturen, abstrahiere den Gegenstand.
In der Tat: Einige Modelle bekommen durch die Betonung der Figur, durch den Fall der Falten oder die Reflexionen des Scheinwerferlichts auf den Stoffen eine ganz eigene Anziehungskraft. Den meisten steht ihr Kleid ausgesprochen gut, bei manchen betont der Stoff tatsächlich die Reize dessen, was sich darunter verbirgt. Man muss auch an den chinesischen Philosophen Lao-Tse denken und seinen Spruch: „Alle Frauenkleider sind nur Variationen des ewigen Streites zwischen dem eingestandenen Wunsch, sich zu kleiden, und dem uneingestandenen Wunsch, sich zu entkleiden.“ Und natürlich ist es bei Autos genauso.
Auch bei Suzuki hat man die Wagen für die offizielle Präsentation noch einmal angekleidet. „Wenn die Autos hier ankommen, sind sie noch ohne Hülle. Wir verpacken sie dann zur Präsentation – und nachts, damit sie nicht dreckig werden“, verrät Dominik Eiland, bei Suzuki für die Automessen zuständiger Produktmanager. Nach der IAA werden die schützenden Tücher noch mehrfach zum Einsatz kommen, etwa in Autohäusern. „Es gibt da große Unterschiede in der Qualität. Wir verwenden beispielsweise die selben Stoffe wie Porsche“, macht er deutlich. Wichtigstes Kriterium: „Das Material muss unbedingt anti-statisch sein, sonst laden sich die Autos womöglich auf.“ Etwa 250 Euro kostet eines der maßgeschneiderten Kleider.
Und da ist sie wieder: die Parallele zur Frau. Die Enthüllung ist ein Striptease. Wenn auf der IAA die Hüllen fallen, stecken zwar nur Metall und Technik unter der grauen Seide, und man muss schon Autoliebhaber sein, um darin etwas Erotisches zu sehen. Man kann aber auch einer Expertin von Jaguar glauben. Die weiß nämlich, woraus die Auto-Hüllen auf der IAA bestehen: „Es ist das selbe Material wie für Damenunterwäsche.“