Künstler*in | WIM | |
Album | Boxer | |
Label | Schwesterherz Records | |
Erscheinungsjahr | 2022 | |
Bewertung |
Was soll ich später eigentlich einmal beruflich machen? Laut einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Vodafone Stiftung aus dem Jahr 2014 hat fast die Hälfte der Schüler*innen in Deutschland noch kurz vor dem Abschluss keine Antwort auf diese Frage, und zwar unabhängig von der Schulart. Nur knapp ein Drittel kann eine konkrete Vorstellung benennen, welcher Job es mal für sie sein sollte, ein Fünftel hingegen hat noch nicht einmal eine vage Idee.
Bei Nina Müller war das alles ganz anders. Als sie 8 Jahre alt war, stand ihre Berufswahl fest: Sie wollte Lieder komponieren. Glaubt man der Legende, war ein Stück von Freddie Mercury im Radio der Auslöser dafür, in jedem Fall ging sie diesen Weg dann sehr konsequent weiter. Sie studierte Songwriting und Klavier, nahm am Popkurs der Musikhochschule Hamburg teil und bekam dann tatsächlich erste Aufträge mit Kompositionen für Film und Fernsehen. Außerdem schrieb sie Lieder für andere Künstler*innen, darunter Michael Schulte, Max Mutzke und Lina Maly (die hier auch bei einem Song im Background-Chor mitwirkt).
Als WIM bringt die in Hamburg lebende Künstlerin nun zum ersten Mal auch Lieder unter eigener Flagge heraus. Sie hat die Texte geschrieben und das Album selbst produziert, die Musik ist gemeinsam mit Toby Siebert (And The Golden Choir und andere) entstanden. Boxer zeigt sofort ihre enorme Könnerschaft, sowohl in den sehr poetischen Texten als auch in etlichen Klangdetails.
Fast in jedem Lied auf dieser Platte finden sich dafür Beispiele: An manchen Tagen handelt davon, dass manchmal das Unbehagen mit Steinen im Magen die Überhand über das eigene Leben zu gewinnen vermeint, und passend dazu erklingen dann im Refrain drei sehr harte Schläge. Wolkenkratzer („Wir haben bis in den Himmel geragt / jetzt sollen wir wieder winzig sein“) wird von tollen Streichern bereichert, Ich frag ja nur baut etwas schräge Elektronik ein, der Refrain von Löwenherz hat ein umwerfendes Gesangsarrangement im Refrain, beinahe acappella und dabei ungemein wirkungsvoll und absolut faszinierend. Treibsand erzählt wieder einmal von den mannigfaltigen Kämpfen, Zweifeln und Hoffnungen des Beziehungslebens („Eine Hand fängt die Scherben / und schneidet sich wieder daran“), umgesetzt mit sehr origineller Rhythmus-Arbeit, Kapitän Zukunft profitiert sehr vom darin eingesetzten Chor.
Die vielleicht deutlichste Referenz für die Musik von WIM ist Judith Holofernes. Ihre Texte sind ähnlich verspielt, auch die Gesangsstimme ist vergleichbar. Man merkt, wie viel Überlegung, Detailarbeit und Zeit in jede einzelne Zeile geflossen ist, ohne dass die Texte deshalb ihre emotionale Kraft verlieren oder verkopft wirken.
Ein Pluspunkt dabei ist, dass die Themen und Inhalte zwar ausreichend benannt und umrissen werden, um zu ahnen, worum es in einem Lied geht, jedoch nie so explizit, dass man wirklich sicher sein könnte. Boxer wird mit der Zeile „Ich wollte nie Boxer sein“ wohl ein Plädoyer für einen sanfteren, achtsameren Umgang miteinander, nicht nur in Liebesbeziehungen. Geistesblitzableiter ermuntert dazu, sich nicht immer den Kopf zu zerbrechen, Wie auf Zehenspitzen erzählt hingegen von der Nacht, mit der auch die Schwermut kommt. Das sehr rührende L ist offensichtlich eine Erinnerung an eine abwesende, vielleicht auch bereits verstorbene Person. „Du bist immer noch der Anfang der Geschichte / die ich zu Ende dichte“, lauten darin die schönsten Verse des Albums.
Eine Schwäche von Boxer ist jedoch, dass das beträchtliche lyrische Talent von WIM durch die Musik mitunter eher verschleiert als verstärkt wird. Denn ihre Texte sind manchmal nicht zu verstehen, in einigen Passagen könnte es für unaufmerksame Hörer*innen nicht einmal zu erkennen sein, in welcher Sprache sie dort singt. Das liegt an ihrer behutsamen Intonierung und der sehr besonderen Melodieführung dieser Songs, die lieber kunstvoll sind als sich nah an der gesprochenen Sprache zu orientieren, aber eben auch am Mix. So ganz scheint sich Nina Müller in diesen Momenten dann doch noch nicht aus dem Hintergrund (als Songwriterin) ins Rampenlicht (als Performerin) zu wagen.