Film | Wir – Der Sommer, als wir unsere Röcke hoben und die Welt gegen die Wand fuhr | |
Originaltitel | Wij | |
Produktionsland | Belgien | |
Jahr | 2018 | |
Spielzeit | 99 Minuten | |
Regie | René Eller | |
Hauptdarsteller*innen | Tijmen Govaerts, Friso van der Werf, Aimé Claeys, Folkert Verdoorn, Salomé van Grunsven, Maxime Jacobs, Laura Drosopoulos, Pauline Casteleyn | |
Bewertung |
Worum geht’s?
Simon, Thomas, Jens, Karl, Liesl, Ruth, Ena und Femke verbringen den Sommer gemeinsam. Die vier Jungs und vier Mädchen haben einen leerstehenden Wohnwagen gefunden und amüsieren sich jetzt dort mit Rauchen, Baden, Knutschen, Vögeln, Saufen und Mofafahren. „Wir wollten die Welt entdecken und keine Zeit verlieren“, lautet ihr Motto, und so stacheln sie sich gegenseitig an, ihre Grenzen auszuloten. Sie lösen eine tödliche Massenkarambolage auf der Autobahn aus, als die Mädchen auf einer Brücke über der Fahrbahn ihre Röcke heben. Dann drehen sie Sexvideos fürs Internet und finanzieren sich damit einen ausschweifenden Lebensstil, von dem ihre Eltern nichts mitbekommen. Um noch mehr Geld zu verdienen, bieten sich die Mädchen schließlich als Prostituierte an, was unter anderem etliche Honoratioren der Stadt als Freier anlockt. Die Jungs machen heimlich Aufnahmen davon, die sie als Material für Erpressungen dieser namhaften Männer nutzen wollen. Als eines der Mädchen schwanger wird und eine illegale Abtreibung braucht und sich dann vor dem Wohnwagen noch ein tragischer Unfall ereignet, endet der unbeschwerte Sommer allerdings mit reichlich Zerwürfnissen zwischen den acht Teenagern – und schließlich landen sie auch vor Gericht.
Das sagt shitesite:
Aus Unbeschwertheit wird Übermut und schließlich Exzess – was sich als Zusammenfassung für einen Jugendfilm ziemlich bekannt anhört, wird hier sehr außergewöhnlich auf die Kinoleinwand gebracht. Das liegt an der Handlung, die auf dem 2013 erschienenen Roman Wij von Elvis Peeters basiert. Es liegt aber ebenso an der Umsetzung von Regisseur René Eller, der hier seinen ersten Spielfilm abliefert. Er hat zuvor Werbespots und Musikvideos gedreht, was in der schicken Optik und den schnellen Schnitten von Wir – Der Sommer, als wir unsere Röcke hoben und die Welt gegen die Wand fuhr deutlich wird. Er setzt vor allem auf Nachwuchsschauspieler*innen, viele in ihrer ersten Kinorolle, und erzählt die Ereignisse vier Mal, jeweils als Rückblick aus der Perspektive einer der beteiligten Personen. Das geschieht mal in Form einer Gerichtsverhandlung, mal als Gespräch mit den Eltern, mal als Sitzung beim Therapeuten. Alle Episoden unterscheiden sich dabei leicht, manchmal durch Ergänzungen, manchmal durch Widersprüche, sodass der Wahrheitsgehalt fragwürdig bleibt. Es wird zwar klar, dass sich die Protagonist*innen durch die Erlebnisse verändert haben, aber nicht unbedingt, ob sich ihre Persönlichkeiten dadurch in eine wünschenswerte Richtung entwickelt haben.
Coming Of Age ohne „die Moral von der Geschichte“, ohne Katharsis und Läuterung, das ist die verstörende Wirkung des Films, zu der auch sehr explizite Sexszenen beitragen, die dabei nie erotisch werden. Man kann an Larry Clark denken bei diesem Porträt junger Menschen, die versuchen, aus Langeweile und Spießergesellschaft auszubrechen, und dabei doch in ihrer eigenen Orientierungslosigkeit hängen bleiben, auch an Funny Games in der Darstellung von zwar lebensfrohen und gut situierten, in erster Linie aber grausamen, skrupellosen und durchtriebenen Kids.
Sehr gekonnt zeigt Wir – Der Sommer, als wir unsere Röcke hoben und die Welt gegen die Wand fuhr, wie aus Leichtsinn, Übermut, Lust auf Provokation und vermeintlicher Selbstverwirklichung nach und nach Mechanismen von Zwang und Abhängigkeit werden. Die Seventies-Klamotten und -Ausstattung scheinen auf das Zeitalter der sexuellen Befreiung hinzuweisen und die Teenager scheinen mit den Mechanismen der Sexbranche abgeklärt umzugehen, aber Eller macht deutlich, dass dies eine Illusion ist, wenn er seine sagenhaft jungen Protagonist*innen mit dem Fahrrad zum Pornodreh fahren und dort Stellungen ausprobieren lässt, die sie kurz vorher noch in einem Aufklärungsbuch nachgeschlagen haben. Was ihnen, insbesondere den jungen Frauen, wie wertvolle Selbsterfahrung und Emanzipation vorkommt, kippt in Ausbeutung und Intrige. Sinnbildlich ist das im Gegensatz umgesetzt zwischen dem unschuldig verliebten Pärchen Simon und Femke, das man zu Beginn des Films kennenlernt, und Thomas, der sich am Ende als sadistischer, manipulativer Zuhälter erweist, seine einstigen Freundinnen bloß noch wie Objekte betrachtet und womöglich die ganze Stadt in ein Komplott verwickelt hat.
Viele Kritiker*innen haben bei Wir – Der Sommer, als wir unsere Röcke hoben und die Welt gegen die Wand fuhr angemerkt, dass die Motivation dieser Teenager nicht klar wird und dass ihre Ausschweifungen nicht bewertet werden, das galt sowohl für den Roman als auch für diese Verfilmung. Dabei ist eigentlich klar, woher die Lust auf Rebellion kommt, die von den jungen Leuten wahlweise als Zeitvertreib, Protest, Kunst oder Sabotage betrachtet wird. Nämlich aus einer Leere, von der sie bereits ahnen, dass sie keineswegs dadurch verschwinden wird, dass man einfach bloß älter wird. Diese Kids ergehen sich zwar in pubertärem Weltschmerz, aber sie erkennen auch, was in der Welt der Erwachsenen alles bigott, verlogen und falsch ist, und sie haben deshalb keinerlei Lust darauf, sich irgendeiner Moral zu unterwerfen. Falls der schlichte Originaltitel Wir/Wij so gemeint ist, dass er sich tatsächlich als Charakterstudie einer gesamten Generation versteht, wäre dieser Film deshalb umso schockierender.
Bestes Zitat:
„Ich dachte immer, allein zu sein wäre das Schlimmste. Aber es ist viel schlimmer, in einer Gruppe zu sein, die dir das Gefühl gibt, alleine zu sein.“