Künstler | Diverse | |
Album | Wir müssen hier raus | |
Label | Unter Schafen Records | |
Erscheinungsjahr | 2020 | |
Bewertung |
An Nachlassverwaltung besteht bei Ton Steine Scherben eigentlich kein Mangel. Seit dem Ende der Band 1985 sind reichlich Best-Of-Sammlungen, Filme und Bücher entstanden. Nach wie vor touren etliche Coverbands durchs Land, und auch die Zahl der Tribute-Alben ist bereits beträchtlich. Schon 1997 erschien Viva L’Anarchia, in diesem Jahrtausend folgten beispielsweise Keine Macht für Niemand – Die Erben der Scherben (2001) sowie zwei Teile des Familienalbums (2003 und 2005).
Gute Gründe für eine Hommage an Ton Steine Scherben und Rio Reiser, wie Wir müssen hier raus im Untertitel heißt, gibt es dennoch. Erstens wären die Scherben in diesem Jahr 50 und ihr Sänger 70 Jahre alt geworden, zweitens macht auch diese Sammlung deutlich, wie übergroß ihr Einfluss auf die deutsche Musiklandschaft war und ist. Man muss Rio Reiser vielleicht nicht als „deutschen John Lennon“ bezeichnen, wie es Frank Spilker (Die Sterne) in seinem Vorwort im Booklet tut. Dennoch ist klar: Ohne diese Band wäre eine eigenständige, alternative Rockmusik hierzulande undenkbar, ebenso wie Songtexte auf Deutsch, die nicht nach Schlager klingen, sondern nach Poesie – unabhängig davon, ob sie die Liebe besingen oder den Klassenkampf.
Spilkers eigene Band hat dieser Pionierleistung ebenso viel zu verdanken wie die von Judith Holofernes, die ebenfalls im Booklet zu Wort kommt, oder jüngere Acts wie Milliarden oder AnnenMayKantereit. Man darf Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten zustimmen, wenn er sich erinnert: „Ton Steine Scherben hatten die Platte Keine Macht für niemand herausgebracht, die Initialzündung für die deutsche Rockmusik. (…) Ton Steine Scherben waren die beste Alternative zu einem schlechten Tag, sie spendeten Kraft und Identität.“
Schnell fällt auch auf, wie gut die 21 hier vertretenen Lieder in ein Pandemie- und Krisenjahr passen. Im Vergleich beispielsweise zum Familienalbum ist die Songauswahl deutlich politischer, und natürlich liegt auch darin der fortwährende Reiz des Werks von Ton Steine Scherben: Die Gegenwart ist hier, um ein paar Begriffe aus den versammelten Stücken auszuwählen, „Hölle“, „Zuchthaus“, „Schutt und Asche“. Sie ist „bla bla bla“ und „bumm bumm bumm“. Sie ist nicht auszuhalten. Sie ist etwas, das man nur als unbedingt zu Überwindendes betrachten kann. „Rio hat nicht nur den Diskurs, sondern die Emotion, das Leiden unter den gegebenen gesellschaftlichen (Miss-)verhältnissen in die Mitte der Gesellschaft gebracht“, schreibt Frank Spilker im Booklet, und diese Verhältnisse verlangen natürlich auch anno 2020 nach Kritik und Revolte.
Denn genau die Erfahrung, die im Mittelpunkt vieler Songs von Ton Steine Scherben und Rio Reiser steht, konnten wohl spätestens in der Corona-Zeit wohl viele Menschen machen: ein ganz persönlicher Frust, eine individuell empfundene Enge, kombiniert mit der Ahnung oder dem Wissen, dass sie Symptom oder Resultat einer dysfunktionalen Gesellschaft sind und dass ein ordentliches Auskotzen und Tabula Rasa vielleicht keineswegs schlimmer sind als ein feiges Perpetuieren dessen, was man längst als falsch erkannt hat. Die Suche nach Trost in der Gemeinschaft ist ebenfalls ein sehr aktuelles Leitmotiv.
Als sehr gute Idee erweist sich auch, dass Wir müssen hier raus von Originalsongs eingerahmt wird. Der Titelsong aus dem Jahr 1972 steht am Beginn der Platte, man kann darin eine Energie, ein Aufbegehren und auch eine Feier des Zusammenhalts erkennen, wie er sich viel später beispielsweise bei Tocotronic findet, auch dieser etwas windschiefe Sound, der Punk vielleicht noch nicht kennt, aber in jedem Fall Blues im Herzen hat, passt zu dieser Traditionslinie. Am Ende dieses Samplers steht die Pianoversion von Der Krieg, und es ist ebenso erschütternd wie gruselig, wie gut dieser Text auch heute noch in die Zeit passt.
Das restliche Material versammelt mit durchaus namhaften Acts ein paar alte Bekannte und übliche Verdächtige, setzt aber auch neue Akzente. Mit Jan Delays Für immer und dich (von dessen Mercedes Dance-Album) gibt es einen veritablen Hit, der tatsächlich genauso viel Herzblut, Wärme und Gänsehaut verbreitet wie das Original. Auch Wir sind Helden steuern ein bereits gut bekanntes Highlight bei: Ihre phänomenale Liveversion von Halt dich an deiner Liebe fest aus dem Jahr 2003 war schon auf Tausend Wirre Worte zu finden, ist aber weiterhin ein Genuss.
Die älteste hier zu findende Coverversion ist Ich will nicht werden von Slime, ursprünglich zu finden auf ihrem 1983er Album Alle gegen Alle. Ihre Interpretation ist glaubhaft und wütend, und mehr braucht es auch gar nicht. Die Deutschpunk-Fahne halten auch Fehlfarben mit Nicht nochmal hoch, ebenfalls mit viel Lust auf Feuer, Terror und Provokation. Der Song war schon auf Familienalbum 2003 zu finden, ebenso wie Die Sterne mit Wenn die Nacht am tiefsten, das sie sich zwar mit Orgel, Groove und im Refrain gar einem Vocoder-Effekt komplett zu eigen machen, dem Stück dabei aber auch etwas von seiner Unmittelbarkeit nehmen.
Vom zweiten Teil der Familienalbum-Reihe kennt man bereits Warum geht es mir so dreckig in der Fassung von Bosse, der in dieser rabaukigen Inkarnation kaum wiederzuerkennen zu ist. Ein Highlight dieser Compilation ist Morgenlicht von Rocko Schamoni (von seinem 2015er Album Die Vergessenen), das mit Bläsern und hartem Beat im Sound so schroff, mutig und dramatisch wird, wie es bei den Scherben sein sollte. Deutlich schwächer schneiden Fettes Brot mit dem schon 2010 erstmals veröffentlichten Ich bin müde ab, das sie zwar glaubhaft interpretieren, aber nicht mit eigenem Reiz anreichern können. Die Beatsteaks erinnern mit S.N.A.F.T. (das kennen Fans schon seit 2011 von der Deluxe-Version des Boombox-Albums) daran, dass Subtilität und Geheimnis nicht zu ihren größten Stärken gehören. Auch Ken erscheinen mit Wir müssen hier raus (von ihrem Cover-Album I Am Thief aus 2005) eher wie Epigonen.
Acht der hier zu findenden Songs wurden im Sommer 2020 speziell für diese Sammlung aufgenommen. Sie sind für TSS-Fans sicher der lohnendste Aspekt dieses Tribute-Albums und erweisen sich fast durchweg als ebenso respektvoll wie spannend. Neufundland verpassen Halt dich an deiner Liebe fest viel Rotzigkeit und Leidenschaft, sogar auch etwas Glamour. Schrottgrenze hätten mit ihrer Version von Menschenfresser zu NDW-Zeiten wohl einen todsicheren Hit gelandet. Die Höchste Eisenbahn interpretiert Schritt für Schritt ins Paradies so sensibel und sanft, wie man sich das gewünscht hätte, und reichert das Lied zudem mit einem dezenten Groove an, der es in ihre Welt holt, ohne es auf den Kopf zu stellen oder seine Herkunft zu verleugnen.
Gisbert zu Knyphausen erinnert mit Straße daran, dass Rio Reiser nicht nur für Aktivismus stand, sondern auch zu Lockerheit, Müßiggang und Lobpreis des Faulenzens in der Lage war, mit einer ebenso unerreichten „Leck mich / scheiß drauf“-Attitüde, was hier in so etwas wie Country-Rock-Gelassenheit mündet. Patrick Richard lässt Der Traum ist aus in Inhalt und Ästhetik erstaunlich aktuell klingen, Erregung öffentlicher Erregung platzieren Jenseits von Eden irgendwo zwischen Punk und RnB und zeigen damit, dass Wut auf die Elterngeneration heute noch genauso möglich (und angebracht) ist wie 1981. Für den Blick auf nicht bewältigte und nicht einmal thematisierte Nazi-Schuld gilt das natürlich genauso.
Die einzigen Ausreißer nach unten sind Das Bierbeben mit Mein Name ist Mensch (schräg und erstaunlich harmlos) sowie Östro 430, die Alles Lüge in eine nicht wirklich überzeugende Novelty-Nummer verwandeln. Dafür entschädigt Lina Maly mit ihrem sehr innigen Zauberland (aus ihrem im September erschienenen Mini-Album Hush Hush) als Quasi-Rausschmeißer.
Unterm Strich zeigt Wir müssen hier raus erneut, wie nachhaltig die Wirkung war, die Rio Reiser und Ton Steine Scherben mit ihrer Ästhetik und ihrem Selbstverständnis für alle in Deutschland hatten, die in den vergangenen 50 Jahren auf die Idee gekommen sind, eine Gitarre in die Hand zu nehmen. Der Kern dieses Ethos ist so gültig wie eh und je und wird durch diese Sammlung wahrscheinlich wiederum einer neuen Generation vermittelt: Musik kann Gemeinschaft stiften, in dieser Gemeinschaft steckt eine enorme Kraft für die Möglichkeit zur Befreiung – und schlimmer als das Kapital ist nur noch die Kapitulation.